Noa, Amélie und Emilia sprachen mit unserem Oberbürgermeister Belit Onay über die Hannah Arendt Tage, die nach der renommierten politischen Theoretikerin Hannah Arendt benannt sind.
Diese Veranstaltung bietet eine Bühne für die Auseinandersetzung mit aktuellen politischen und gesellschaftlichen Fragen. Arendt, die für ihre durchdringenden Analysen zu politischer Freiheit und Verantwortlichkeit bekannt ist, vererbte ein Vermächtnis, das die Bedeutung von kritischem Denken und aktiver Teilnahme in gesellschaftlichen Prozessen hervorhebt. Die von der Stadt Hannover veranstaltete Reihe ehrt diese Prinzipien und bringt jährlich Menschen zusammen, um über wichtige und oft provokative Themen zu diskutieren.
Noa, Amélie und Emilia: Aus welchem Grund haben Sie den Schwerpunkt Freiheit als Thema für die diesjährigen HANNAH ARENDT TAGE gewählt?
Oberbürgermeister Belit Onay: Zum einen haben wir in diesem Jahr das 75jährige Jubiläum des Grundgesetzes gefeiert, das die Planungen zu den HAT sehr geprägt hat. Auch die Diskussion darum, welche Bedeutung insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg unsere Verfassung für die Bundesrepublik Deutschland als Basis unserer Demokratie hat. Und das prägt natürlich auch heute noch die politischen Diskussionen. Zum anderen ist gerade jetzt in der aktuellen europäischen, aber auch weltpolitischen Lage das Thema Freiheit nochmal von sehr besonderer Aktualität. Und wir haben so ein bisschen das Glück in den Planungen der HAT, die ja weit im Voraus der Veranstaltungstage liegen, dass die Themen, die wir uns da aussuchen, dann später doch deutlich an Aktualität gewinnen. Und leider ist es auch bei diesem Begriff wieder so. Die Dramatik der Debatten hat nochmal deutlich zugenommen. Und so eben auch die Perspektive von Freiheit. Das ist aber zugleich gut für die Veranstaltungen der HAT, weil diese damit ein Forum bieten für spannende Diskussionen oder einen regen Austausch.
Noa, Amélie und Emilia: Gut, dann gehen wir über zur nächsten Frage. Was versteht Hannah Arendt unter dem Begriff der Freiheit?
Belit Onay: Der Freiheitsbegriff von Hannah Arendt ist sehr vielschichtig und in ihren Werken geht sie darauf ja mehrfach ein. Die Freiheit sich zu entfalten, eigene Fähigkeiten zu entwickeln, um selbstbestimmt als Individuum mit andern Menschen zusammen zu leben und politisch zu handeln, spielt bei ihr eine große Rolle. Das ist natürlich auch ihren eigenen Erfahrungen, ihrer Vita, denke ich, geschuldet.
Noa, Amélie und Emilia: Wie sieht Hannah Arendt die Beziehung zwischen Freiheit und politischer Teilhabe?
Belit Onay: Diesen Zusammenhang sieht und beschreibt sie ebenfalls in ihren Schriften. Gemeinsames Handeln in Freiheit ist für Arendt Ausdrucksform demokratischer Politik. Das ist Teil der historischen und auch ihrer eigenen Erfahrungen. Die Teilhabe an politischen Prozessen sichert eben auch die Freiheit. Oder andersherum, die Freiheit wird gefährdet, wo solche Teilhabe nicht möglich ist. Und das sind auch die Erfahrungen Arendts in Deutschland nach 1933.
Noa, Amélie und Emilia: Wie könnten Arendts Überlegungen zur Freiheit helfen, die aktuelle Herausforderung im Umgang mit rechtspopulistischen beziehungsweise populistischen Parteien und deren Einfluss auf demokratische Gesellschaften zu bewältigen? Also, wie kann man das handhaben?
Belit Onay: Es ist genau dieses Spannungsfeld von Freiheit und politischer Teilhabe, das von Rechtspopulisten derzeit bewusst getriggert wird, in dem auch versucht wird, einen Keil in die Gesellschaft zu treiben. Dass man politische Desinformationen insbesondere dazu nutzt, auch Gruppen zu diffamieren, auszugrenzen und damit Teilhabe zu gefährden und auch Gesetzgebung zu beeinflussen, um solche Teilhabe zu unterbinden. Also genau das Gegenteil von dem, was wir eigentlich versucht haben. Zum Beispiel war und ist es in Hannover, aber auch in der Europäischen Union, weithin Konsens, die Teilhabe von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, von Minderheiten zu sichern. All das wird mehr und mehr in Frage gestellt. Insofern erleben wir die Gefährdung von Freiheit, denn sie wird von Rechtspopulisten eben auch wieder attackiert. Daher ist für uns der Maßstab, den Hannah Arendt setzt, auch der Maßstab, der unser politisches Handeln bestimmen muss, wenn wir es mit Rechtspopulismus aufnehmen wollen. Deshalb halte ich Arendts Beschreibung der Freiheit, also das Freiheit ohne Partizipation nur eingeschränkt und unvollständig ist, als richtungsweisend.
Noa, Amélie und Emilia: Wie relevant ist Arendts Idee des öffentlichen Raums und der politischen Teilhabe in der heutigen Zeit, in der viele politische Diskussionen und Bewegungen in den sozialen Medien stattfinden?
Belit Onay: Also in gewisser Weise sind die sozialen Netzwerke zu den öffentlichen Räumen geworden oder haben sich dazu entwickelt. Gleichzeitig muss man aber sagen - und das zeigen auch die Entwicklungen der letzten Jahre -, dass sich viele Bewegungen eben auch in der Öffentlichkeit Raum gesucht haben, sich artikuliert haben, organisiert häufig auch aus den sozialen Netzwerken heraus. Ich denke da an die Klimabewegung Fridays for Future. Black Lives Matter war auch eine Bewegung zum Beispiel, die sich erst in den sozialen Netzwerken, aber dann auch in Hannover auf den Straßen gezeigt hat. So auch die Bewegung zu Beginn des Jahres von Demonstrierenden, allein 35.000 Menschen in Hannover, die gegen Rechts, gegen die sogenannten Remigrationspläne der AfD protestierten. Und deshalb sind diese Verhandlungen von politischen Kontexten, von politischen Sachverhalten und Fragestellungen, von Debatten darüber im öffentlichen Raum genau das, was wir brauchen. Es ist sehr wichtig, dass wir auch diejenigen, die politische Entscheidungsträger*innen sind, in diesen Raum mit anbinden oder dass sie sich dort auch hinbegeben und dazu die Verbindung suchen. Zum einen, um die politische Teilhabe zu sichern. Aber eben auch, um gemeinsam eine Solidarität zu entwickeln innerhalb der Gesellschaft, zum Beispiel gegen Rechtspopulismus.
Noa, Amélie und Emilia: Wie könnte man so einen öffentlichen Raum noch gestalten und vor allem politisch mitgestalten? Sodass er zugänglicher für andere ist um teilzunehmen?
Belit Onay: Ich glaube, es gibt nicht „den öffentlichen Raum“, dass man so wie im antiken Griechenland eine Agora schafft, und alle kommen dorthin. Das merken wir auch, dass das nicht immer funktioniert. Wir haben zum Beispiel ganz viele Veranstaltungen zur Beteiligung, da sehe ich meist immer dieselben Leute, egal zu welchem Thema. Entweder dieselben wirklich zur Person, oder häufig vergleichbare situierte Menschen.
Noa, Amélie und Emilia: Genau, wie bricht man das irgendwie auf?
Belit Onay: Was wir geschafft haben und was uns gut gelungen ist, ist der Aufhof zum Beispiel. Ich weiß nicht, kennt ihr den Aufhof?
Noa, Amélie und Emilia: Ja, Klar.
Belit Onay: An diesem Ort ist es auch tatsächlich geglückt, durch verschiedenste Initiativen, die wir dort hereingebracht haben, das Eis brechen zu lassen. Und das ist gut, denn ich merke, dass auch in meinem eigenen Umfeld und selbst bei Menschen, die so halbwegs noch politisch interessiert sind, die Hemmschwelle zum Beispiel an einer Bürger*innenversammlung teilzunehmen, zu irgendeiner Sachfrage, relativ groß ist. Weil man nicht weiß, was erwartet einen dort? Weil das Umfeld, vielleicht auch die Akteur*innen dort nicht unbedingt bekannt sind. Aber so ein Platz wie der Aufhof, mit niedrigschwelligem Zugang, offen für alle und sehr einladend und mit der Möglichkeit, sich erst mal langsam einzufühlen in so einem Raum, das hat, finde ich, gut funktioniert.
Es geht aber auch darum, dass man ernsthaft Transparenz schafft, zum Beispiel in politisches Handeln auch, was Finanzierung, was Handlungsschritte angeht. Sonst gibt es immer ein Wissensgefälle. Also den Informationsfluss sicherzustellen, das ist auch eine Frage von Teilhabe und Teilhabemöglichkeit.
Noa, Amélie und Emilia: Und wo sehen Sie die Chancen und Herausforderungen für die Freiheit in der Stadt Hannover?
Belit Onay: Wir sind eine europäische Stadt mitten im Herzen Europas, und das ist Fluch und Segen zugleich. Wenn es Europa gut geht, geht es uns gut. Wenn Europa unter Druck ist, haben wir die Probleme Europas eben auch voll und ganz in unserer Stadt. Wir merken auch hier, dass der Rechtspopulismus deutlich zunimmt, dass die gesellschaftspolitischen Debatten rauer werden. Das ist auch etwas, was, glaube ich, die Gesellschaft hier sehr deutlich bewegt. Ich bin sehr froh, und das haben nicht zuletzt auch die Ergebnisse der EU-Wahl gezeigt, dass Hannover sich sehr positiv absetzt von anderen Regionen Deutschlands und auch Europas. Nichtsdestotrotz, die Gefahr, das Rechtspopulismus, rechtspopulistische, rassistische und faschistische Ideen auch hier Fuß fassen und sich Raum greifen, auch politische Diskurse bestimmen, besteht auch in unserer Stadt. Das ist eine der großen Herausforderungen im Kontext dessen, was Europa gerade zu meistern hat.
Noa, Amélie und Emilia: Welche Ansätze aus Arendts Konzept der Freiheit können helfen, die Spaltung und Privatisierung der modernen Gesellschaft zu überwinden und einen inklusiven politischen Dialog zu fördern?
Belit Onay: Ich glaube, einer der Hauptpunkte ist eben dieser Gedanke der Teilhabe. Die ist sicherzustellen. Also wir müssen, wenn man das jetzt mal aus der kommunalen Ebene betrachtet, Investitionen beispielsweise in Bildungs- und Teilhabestrukturen schaffen. Aber eben auch im politischen Raum die Teilhabe zu ermöglichen, also Beteiligung von Menschen bei relevanten Projekten, ihnen eine Stimme zu geben, sie einzubinden. Auch über das hinaus, was eigentlich so normalerweise organisierte Strukturen gewährleisten. Also auch individuelle Teilhabe in unserer Gesellschaft sicherzustellen.
Noa, Amélie und Emilia: Okay, dann kommen wir auch schon zur abschließenden Frage von unserer Seite. Inwiefern kann Hannah Arendt als Vorbild für die heutige Gesellschaft dienen? Und was können wir, vor allem Schülerinnen, von der politischen Theoretikerin lernen?
Belit Onay: Die politische Theoretikerin Arendt hat sich immer der öffentlichen Kontroverse gestellt und war mutig genug, eine eigene Meinung zu vertreten und sie zu verteidigen. Und das ist entscheidend. Das gilt für Menschen, die politisch aktiv sind, sich daran auch zu orientieren. Gerade für junge Menschen, die merken, dass heutige Entscheidungen langfristige Auswirkungen auf ihre Zukunft haben werden, kann das ein wichtiger Anreiz sein, sich einzubringen. Hannah Arendt gibt da sehr viele Inspirationen.
Noa, Amélie und Emilia: Vielen Dank.
Belit Onay: Ich danke Euch!
ALLE INFOS ZU DEN DIESJÄHRIGEN HANNAH ARENDT TAGE HIER (KLICK)